Die letzte Chance
Oder : Von zwei, die auszogen die Leoniden zu sehen
Ein Bericht über die Leoniden 2002 ; Text: Dirk Martinek
Wer hat sie nicht schon gelesen, die Augenzeugenberichte der großen
Leonidenstürme von 1833 oder 1966. Hunderttausende von Sternschnuppen
sollen in einer Nacht niedergegangen sein. Es hat im wahrsten Sinne des
Wortes Meteore „geregnet“. Der Anblick muss einfach atemberaubend gewesen
sein. Nachdem auch noch in den Jahren 1999 bis 2001 ergiebige Ströme aus
verschiedenen Teilen der Welt gemeldet wurden, verdichtete sich bei mir
die Gewissheit, diesen voraussichtlich letzten Meteorsturm in meinem Leben
miterleben zu müssen. Zumal dieses Maximum seine beste Sichtbarkeit von
Europa aus haben würde. Kurzentschlossen rief ich meinen alten – sorry –
langjährigen Freund und astronomischen Weggefährten Otto Klein an, bei dem
ich mir sicher war, dass er verrückt genug ist auf den letzten Drücker nach
Dänemark, Spanien oder sonst wo hinzufahren. Sein Kommentar: „Was für ’ne
Frage. Ich hab schon Urlaub genommen.“ So landete ich dann eine knappe
Woche vor dem Maximum bei Otto in Arzberg/Fichtelgebirge, dessen Wohnung
wir auch als vorläufiges „Basislager“ benutzten. In den nächsten Tagen
verfolgten und studierten wir wie gebannt Wetterbilder aller nur erdenklichen Satelliten.
Die Aussichten waren nicht gerade rosig. Die
größten Teile Europas lagen unter einer dichten Wolkendecke. Je näher der
„große Tag“ heranrückte, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass
der an der Mittelmeerküste gelegene Teil Südfrankreichs frei von Wolken
bleiben würde. Vielleicht. Letztendlich beschlossen wir, diesen Weg
einzuschlagen. Am frühen Morgen des 18.November – den Kofferraum mit dem
nötigen Equipment vollgepackt – ging unsere Reise los. Zwischenstop in
Freiburg: In einem Internetcafe prüften wir ein letztes mal die Wetterlage.
Dann ging’s ‚rüber nach Frankreich. Im Eiltempo bretterten wir entlang der
Rhone über die Autobahn Richtung Süden. Bis zur Dämmerung: Dichte Wolken.
Nach der Dämmerung: Dichte Wolken. So langsam wurde uns mulmig. War doch
alles umsonst? Die Spannung stieg, die Stimmung sank. Doch dann, so gegen
23 Uhr, etwa 100Km vor der Küste, verhaltener Jubel. Die ersten Risse in
der Wolkendecke. Die Lücken wurden größer und häufiger. Bei Nimes angelangt
hatten wir bereits einen völlig wolkenfreien Himmel. Von dort aus ging’s
dann runter von der Autobahn, ab in die Berge. Irgendwo auf der Landstrasse
um 0:33 Uhr ein Aufschrei. Direkt in unsere Fahrtrichtung ca. 10° über dem
Horizont der erste Meteor. ♫ Jetzt geht’s lohos ♫ Die nächsten Meteore
bedeuteten uns, möglichst schnell einen Standort zu finden. Nach etwa einer
Stunde hatten wir unser Plätzchen gefunden. Zu unserer Überraschung
tummelten sich unter diesem einsamen und vermeintlich kleinen Fleckchen
freien Himmels überraschend viele weitere Amateurastronomen. Hier ein
landkartenlesender bei seinem Geländewagen, dort zwei montierungaufbauende
vor ihrem Caravan und auch sonst ein, für diese Gegend und Uhrzeit,
überdurchschnittliches Verkehrsaufkommen. Angekommen an unserem Standort
nahmen wir natürlich erst einmal die obligatorische kritische Betrachtung
des Sternhimmels vor:
Der Vollmond stand hoch am Himmel und machte
ordentlich Licht (war klar).
Die Grenzgröße lag bei etwa 4.8 mag. Die Zahl der Meteore nahm schon beträchtlich zu. Jetzt hieß es nur noch:
Daumendrücken, dass der klare Himmel bis zum Morgen anhält. Ein leichter
aber eisiger Wind wehte uns um die Ohren. Wir machten uns ans aufbauen der
Geräte. Montierung, Stative, Kameras. Währenddessen nahm die Fallrate
weiter zu. Kurz nachdem die Geräte aufgebaut und so langsam ausgekühlt
waren, merkten wir es: extrem Feuchte Luft. Die Optiken beschlugen im Laufe
der Zeit in immer kürzeren Abständen. Später im Minutentakt. Dann streikte
auch noch eine Kamera von mir. Bingo! Während ich so bastelte und Linsen
putzte, sah ich aus den Augenwinkeln und bei gelegentlichen Blicken zum
Himmel, dass das kosmische Feuerwerk nun so richtig losging.
Ich traute mich kaum noch, den Blick vom Himmel zu wenden, in der Angst, ich könnte ein paar schöne Meteore oder sogar eine Feuerkugel verpassen. Nachdem ich dann noch Ewigkeiten friemelte um meine Videokamera mit Fisheye aufzubauen,
auszurichten und richtig einzustellen, fiel bei mir der Entschluss: Die Filmkamera bleibt laufen, aber den Rest der Meteore – vor allem das Maximum
– wollte ich ohne Unterbrechung „live“ genießen.
Ich konnte einfach nicht
anders, gab mich der Faszination dieses Schauspiels geschlagen. Rein in den
Schlafsack und bis zum Morgengrauen einfach nur noch in Ruhe Schauen. Otto
dagegen, ein Amateurastronom von bestem Schrot und Korn gab sich nicht so schnell geschlagen. Eifrig bediente er mehrere Kameras gleichzeitig, putzte
Linsen, wärmte im Auto Objektive auf, damit sie nicht so schnell
beschlagen. Er holte das beste raus, was rauszuholen war. Und auch er fand offensichtlich noch genügend Zeit zwischendurch sich an dem fantastischen Anblick zu laben, denn ständig hörte ich das obligatorische „Booaahh“ und
„OOOhhh“ und „AAAAhh“ aus seiner Richtung. Nun ging es auf das Maximum zu,
das tatsächlich pünktlich zur angekündigten Zeit (4:30) stattfand. Hut ab vor Asher und McNaught. Auch die vorausgesagte ZHR passte ziemlich genau. Um das Maximum kamen die Meteore teilweise im Sekundentakt herunter. Ein paar mal konnten wir sogar 3 bis 4 Leoniden fast gleichzeitig sehen. Es war einfach unglaublich. Aufgrund der extrem hohen Geschwindigkeit der Leoniden
erzeugten selbst die schwächeren von ihnen einen deutlich sichtbaren und
nachleuchtenden Ionenschlauch. Ein Phänomen, das bei den Perseiden z.B. nur
bei den sehr hellen auftritt. Die Zahl der Meteore war wirklich
beeindruckend. Das einzige, worauf wir insgeheim hofften, trat nicht ein. Es fehlten die absoluten Superkracher. Keine einzige wirklich helle Feuerkugel war zu sehen. Bei etwa –8 mag war Schluss. Der hellste Meteor in
dieser Nacht erzeugte allerdings eine lange anhaltende Rauchspur, die sich
einige Minuten hielt und später wie ein großes „L“ aussah. Weiterhin sahen wir einen sehr hellen Meteor (-6) bis zum Horizont niedergehen durch dessen noch sichtbaren Ionenschlauch direkt ein zweiter, gleich heller Meteor schoss. Möglicherweise 2 Bruchstücke ursprünglich eines Meteorits. Entgegen unserer Erwartungen fiel die Aktivität nach dem Peak nicht wieder steil ab,
sondern hielt sich noch erstaunlich lange auf einem hohen Level.
Möglicherweise ein Effekt, der sich daraus ergab, dass der Mond im
Untergehen begriffen war, und der Himmel dunkler wurde. Bis zum
Morgengrauen hielt sich die Fallrate auf einem Niveau, das selbst den stärksten von uns beobachteten Perseidenschauer übertraf. Als ich mich während der Dämmerung aus meinem Schlafsack schälte, sah ich erst, dass sich eine dicke Eiskruste auf ihm gebildet hatte. So langsam ergriff die
Gewissheit von uns Besitz, dass wir wirklich dabei waren. Alle Mühe hatte
sich gelohnt. Ein Erlebnis, das uns niemand mehr nehmen kann. Und wieder
mal hat sich bestätigt: Du hast nur eine Chance, wenn du sie nutzt!
Durchgefroren packten wir unsere Siebensachen, schauten uns glücklich und
zufrieden noch einmal die letzten Sterne in der Dämmerung an, in der
Hoffnung, ob nicht doch noch ein Bolide über den Himmel streift. Nach einem
kurzen Frühstück in Montpellier und einem kurzen Nickerchen auf einem Parkplatz traten wir unsere Heimreise an. Auch diese war noch ziemlich abenteuerlich, doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes mal erzählt werden. Goodbye Leoniden!